Mir bleibt natürlich die Luft weg. Mein Magen meldet sich wieder zu Wort. Das alte Männschen scheint überhaupt nichts zu bemerken. Der macht das sicher öfters. Die Leute um uns verdrücken sich. Wer will es ihnen verdenken. Ich werde die Befürchtung nicht los, gleich kotzen zu müssen. Der alte Mann feuert eine zweite Salve ab. Diesmal habe ich vorgesorgt und mir mein Taschentuch vor das Gesicht gehalten. Leider hat die Sache einen kleinen, aber folgenschweren Fehler. Mit selbem Nasentuch habe ich mir vorhin im Stadtpark meinen Mund abgeputzt. Die Folge war, daß meine Nase nur noch Kotze riecht. Sicherlich keinen deut besser als Fürze. Ich versuche durchzuatmen. Mein Herz schlägt mit 240 beats per minute. Ich habe die Befürchtung, jeden Moment zu krepieren. Mein Magen ist eine tickende Zeitbombe. Urzeit 14.59. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Endtlich komme ich auch einmal in den Genuß, Sterne zu sehen. Wenn ich meinen Ohren noch trauen darf, hat der alte Mann gerade seine dritte Salve abgefeuert. Was zuviel ist, ist zuviel. Ich fügte mich meinem Schicksal. Mein Hals ist trocken wie die Wüste Gobi. Ich drehte mich zur Seite, beugte meinen Kopf nach vorne und übergebe mich. Zum Glück habe ich vorhin im Park bereits den Großteil meines Pulvers verschoßen. Trozdem. Für eine 10 Quadratzentemeter große Pfütze reicht es allemal. Mein Magen befördert an das Tageslicht, was er noch hat. Das allermeiste ist flüssig und hellrot. Dazwischen schwimmen immer wieder kleine Fleischstückschen. Intersante Komposition. Könnte direkt von Beus stammen. Neue Art von Aktionskunst.
Die anderen Fahrgäste sehen mich aus sicherer Entfernung mitleidig an. Bis auf den alten Mann. Der steht immer noch wie angewurzelt auf seinem Platz. Direkt neben ihm meine Kotze. Einzelne Spritzer haben seine Schuhe etwas in Mitleidenschaft gezogen. Im Gegensatz zu 5 Minuten geht es mir jetzt viel besser. Mein Magen hat sich ausgetobt. Die ganze Angelegenheit ist mir allerdings etwas peinlich. Schuldgefühle. Außerdem fühle ich mich wie ein Monster auf dem Rummelplatz. Ich überlege, was ich tun soll.
(Illustration von Ocin9 --> zum Blog der Künstlerin hier klicken)
Nicht sonderlich schwer. Urzeit 15.02. Haltestelle Kafkaplatz. Ich flüchte. Irgendjemand wird meinen Mageninhalt schon aufputzen. Mir ist immer noch etwas schwindelig. Mein Magen gibt momentan Ruhe. Das Kraftwerk Sonne läuft immer noch auf Hochtouren. Der riesige, ansonsten gutfrequetierte Platz ist fast menschenleer. Lediglich die Straßenkaffes sind voll. Ich schmeiße ein weiteres Bonbon ein und studiere den Fahrplan. Nächste in Frage kommende Heimfahrmöglichkeit um 15.07. Fünf Minuten warten. Ich muß mich nachher beeilen. Auf keinen Fall zu spät kom¬men. Wie gesagt. Zwei Punks kommen auf mich zu und bettelten mich um Geld an. Ohne mir großartig Gedanken zu machen, gebe ich ihnen zwei Euro. Sie bedanken sich und verschwinden in Richtung Supermarkt. Wahrscheinlich um sich 30 Cent Bier zu kaufen. Wenn es ihnen Spaß macht, von mir aus. Ich gehe zum Kiosk, welcher in der Mitte des Platzes liegt, und kauft mir ein neues Fahradmagazin. Urzeit 15.06. Die S - Bahn muß gleich kommen. So ist es dann auch. Diesmal habe ich mehr Glück und erwische einen gepolsterten Sitz.
Die alte Frau, welche mir gegenübersitzt, schläft. Sie schnarcht. Ihr Gesicht ist voller Furchen. Meine Kopfscherzen haben etwas nachgelassen. Ich blättere mein vorhin gekauftes Megazin durch. Mit dem Mountainbike durch Schweden. Wie aufregend. Dreizehn Minuten noch, dann bin ich zuhause. Was inzwischen wohl mit meiner Kotze passiert ist? Der arme Fahrer wird sie wohl aufgewischt haben. Nicht mein Problem. Urzeit 15.13. Mir ist langweilig. Zum lesen fehlt mir die Konzentration. Ich entschließe mich, die anderen Fahrgäste zu beobachten. Nichtssagende, tote Gesichter. Die alte Frau schläft immer noch. Da sie schnarcht, muß sie noch am Leben sein. Die S - Bahn verläßt langsam den Stadtkern. Nicht mehr lange, und ich bin am Ziel. Wie jeden Tag. Mein Kopf glüht. Es sind nicht viele Autos unterwegs.
Ich hoffe, daß meine Frau nicht zuhause ist. Ansonsten wird sie mir wieder peinliche Fragen stellen. Darin ist Erika unschlagbar. Wie war es bei der Arbeit? Viel Post zum austragen gehabt? Ich hasse das. Sie zwingt mich ja förmlich zum lügen. Wie jedesmal wird mir dann nichts anderes überigbleiben, als irgendwelche dämlichen Geschichten auszutischen. Darin habe ich in den letzten zwei Wochen eine gerade zu beängstigende Meisterschaft entwickelt. Aber ich kann ihr unmöglich die Wahrheit sagen. Niemals. Dazu bin ich zu feige. Eindeutig. Außerdem will ich nicht, daß Erika mich für einen Versager hält. Sie haßt Versager. Lieber ein Lügner als ein Versager. Über die Zukunft mache ich mir keine Gedanken. Urzeit 15.17. Bald wird es wieder ernst.
Ich krame ein weiteres Zitronenbonbon aus meiner Hosentasche. Bis auf meinen glühenden und wahrscheinlich hochroten Kopf bin ich gesundheitlich wieder einigermaßen hergestellt. Die Sonne hat es zum Glück doch nicht geschafft, mich komplett schachmatt zu setzen. Zumindest hier ein Sieg. Urzeit 15.20. Die Fahrt ist für mich hier zu Ende. Die alte Frau schläft weiter. Ihr Schnarchen hat mich zusätzlich träge gemacht. Schnell raus hier. Wie jeden Nachmittag um diese Zeit bin ich etwas auf¬geregt. Mein Herz rast. Nicht eine Wolke am Himmel. Die Sonne treibt weiter ihre Späße. Ich habe Durst. Meine Lippen sind ausgetrocknet. Ungefähr drei Minuten, dann bin ich zu Hause. Ich laufe relativ schnell. Eine schwarze, fette Katze liegt träge auf einem Fenstersims. Sie scheint mich zu beobachten. Ihre Augen funkeln. Ich gehe an ihr vorbei und lutsche ein weiteres Zitronenbonbon. Vielleicht hilft das gegen den Durst. Die Katze faucht mich kurz an. Dann ergibt sie sich wieder ihrer Lethargie.
Es ist inzwischen 15.24 und ich schließe die Haustüre eines soliden, ca. hundert Jahre alten Mehrfamilienhauses auf. Richtig, ich wohne hier. Im Treppenhaus ist es angenehm kühl. Zum Glück begegne ich niemanden. Hoffentlich ist Erika nicht zu Hause. Na, gleich werde ich es wissen. Meine Kopfschmerzen haben sich wieder zu Wort gemeldet. Schlimmer den je.
Erika war leider doch zu Hause. Irgend etwas stimmte nicht. Sie schien sauer zu sein. Ihre Lippen waren zusammengekniffen. Ein sicheres Zeichen. Wenn Blicke töten könnten, hätte der zuständige Arzt meinen Tod auf 15.26 datiert. Ich machte mir meine Gedanken, welche sich alsbald im Kreis drehten. Sie wird mir doch nicht etwa auf die Schliche gekommen sein? Alles, nur das nicht.
Mir fällt ein, daß ich Durst habe. Wer Durst hat, muß trinken. Das tue ich dann auch. Kalter Eistee. Geschmaksrichtung Pfirsich. Göttlich.
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